Der österreichische Fotokünstler Leo Kandl sucht für seine Serie “Free Portraits” Modelle via Zeitungsannonce, in sehr unterschiedlichen Städten wie New York, Moskau, London, Teheran, Kiev, aber auch Wien. Ohne den genaueren Zweck der Fotografien zu enthüllen, findet er so meist junge, selbstbewusste Menschen mit einem Hang zur Selbstdarstellung. Kandl übergibt die Freiheit der Inszenierung an seine Modelle: Kleidung, Pose, Ort – bleibt ihnen überlassen; der Fotograf nimmt sich bewusst zurück, um ein delikates Spiel zwischen Künstler und Modell zu ermöglichen, in dem zum Entstehungszeitpunkt keiner der beiden das Ergebnis exakt voraussagen kann. Kandls fotografische Methode lässt Spielräume für emotionale Interaktionen, da das möglicherweise riskante Aufeinanderzugehen zweier unbekannter Personen im Rollenspiel Modell - Fotograf Bilder produziert, die von Neugier und gelegentlich subtil erotisch aufgeladener Atmosphäre gekennzeichnet sind.
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"Verweigerung und Rückzug auf das Selbst stehen neben extrovertierter und exzessiver Selbstentäußerung. Die Akteure verbergen sich entweder und ziehen sich an die Wände zurück oder greifen in den Raum ein. Der Charakter der Aufführung schwankt zwischen düsterem Nachtasyl und absurder Operette.“
„Kandl ist an dieser Situation des Provisorischen und Zusammenhanglosen, der durch Zufall bestimmten Begegnungen interessiert; ihn faszinieren die absurden und surrealen Situationen, die sich durch das exhibitionistische Aufbrechen der bürgerlichen Wirklichkeit ergeben. Er sucht die sozialen „exterritorialen“ Situationen in billigen Kaschemmen, vergammelten Schankhäusern wie auch in heruntergekommenen Schwemmen auf. Seine Orte befinden sich nicht selten im Umkreis von Bahnhöfen, die das Transitorische und Absurde der Menschlichen Existenz ins Gleichnishafte steigern.“
„Leo Kandls Photographien aus den Wiener Weinhäusern und Bahnhofsgaststätten sind zeitlos. So verdeutlichen seine Bilder unter anderem auch die Tatsache, dass das Fegefeuer des Rausches Teil einer unveränderbaren condition humaine ist.“
Peter Weiermeier, Leo Kandl: Weinhaus, S.80-81.
Im Sommer 1983 besuchte Leo Kandl regelmäßig einige der beliebtesten Wiener Geschäftsstraßen und fotografierte dabei möglichst unbemerkt von den anderen Passanten. Sein Interesse galt den sich in diesen Straßen bewegenden Menschen, ihren Verhaltensweisen, ihrem Gesichtsausdruck. Mit fix eingestelltem Objektiv seiner Rolleiflex wartete er, bis seine "Opfer" in die nötige Entfernung kamen. Sein Ziel war eine Dokumentation eines Ausschnittes aus dem Alltag in diesen Straßen, daher war seine Arbeit von Anbeginn als Serie geplant. Die hier präsentierten acht Fotos stellen nur eine kleine, vom Fotografen und der Autorin vielleicht sehr willkürlich und aus dem Augenblick getroffene Auswahl aus einer großen Anzahl dar. Mit den folgenden Bemerkungen wird versucht, die Ansichten und Ziele des Fotografen, wie er sie in einem längeren Gespräch über seine neueste Arbeit dargelegt hat, zu über¬mitteln.
Leo Kandl arbeitet schon längere Zeit in dokumentarischen Reihen, bisher — vor allem in den verschiede¬nen Variationen seiner Serie über Menschen in Gaststätten und "Weinhäusern" — fast stets in bewusster Annäherung an die Objekte seines Interesses: Er suchte das Gespräch mit den Besuchern der Lokale, bemühte sich, ihre Scheu oder Aggressivität zu überwinden, aber auch ihre Reaktionen auf die Tatsache des Fotografiert--Werdens mit ins Bild zu bringen. Manchmal brachte er auch eine direkte Zusammenarbeit mit den Porträtierten in das endgültige Werk ein, indem er seine Fotos mit deren Texten oder Unterschriften zusammen drucken ließ.
Mit der neuen Serie hingegen will Kandl ganz bewusst einen Gegensatz zu dieser Phase des persönlichen Kontaktes, des Persönlich-Involviert-Seins schaffen. Er wählte — nach seinen eigenen Worten — eine "neutralere" oder "normalere" Situation: die des unbemerkten Beobachters eines anonymen Geschehens. Er suchte Distanz, wo er früher das Gespräch gesucht hatte.
Der Fotograf Leo Kandl setzt sich in dieser Arbeit über die Gesetze der Modefotografie hinweg. Er widmet seine Aufmerksamkeit nicht den schnell wechselnden Modekollektionen, sondern richtet seinen Fokus auf klassische, abgetragene Herrensakkos, Kleidungsstücke, die Geschichten erzählen. Oberflächenstruktur, Volumen, Schnitt und Muster füllen die Bildfläche aus und lassen den Blick des Betrachters wandern. Falten türmen sich zu riesigen Schluchten auf, das Gewebe nimmt den Blick gefangen und öffnet den Raum für Erzählungen. Die Textur wird zur Pforte in eine andere Dimension – die der Erinnerung an Berührungen und Gerüche, der Phantasien und Träume.
Zu fotografieren begonnen habe ich bei Gesprächen und beim Meinungsaustausch über Fotografie im Freundeskreis. Erweitert haben sich die Kontakte durch Ausstellungen und dann beim Schreiben über die Fotografie für die "Wiener Zeitung". Es ergaben sich immer wieder Möglichkeiten die Begegnungen mit anderen Fotografen zu dokumentieren.
Für mich sind die Bilder eine persönliche Geschichte des Zugangs zur Fotografie und zeigen meinen Blickwinkel auf das fotografische Geschehen seit etwa 40 Jahren.