Zu Beginn des Ausstellungsjahres 1999 präsentiert die Fotogalerie Wien in ihrer Ausstellungsserie “Werkschau - österreichische KünstlerInnen, die die zeitgenössische Fotokunst nachhaltig beeinflußten” mit Leo Kandl einen bestechenden Agenten des Gewöhnlichen, einen Meister des Augenblicks, der von der Re-portagefotografie ausgehend zum Verfechter einer Kunst avancierte, die sich der Wirklichkeit mit den Mitteln einer frontalen, uninszenierten Fotografie anzunähern sucht.
Leo Kandl tritt als minuziöser Chronist des Banalen auf. Mit Akribie und gelassener Distanz spürt er seit den späten siebziger Jahren den vielfältigen Ansichten des Alltäglichen nach, ver-sucht unaufdringlich jene Facetten des Lebens zu dokumentie-ren, die zu belanglos scheinen, um unsere Wahrnehung zu faszinieren, in ihrer Gesamtheit aber eben das ausmachen, was wir als Wirklichkeit erfahren: Die Atmosphäre Wiens, die spezifische Lebenskultur dieser Großstadt, Momente jenes begrifflich nicht faßbaren Konglomerates, das sich seit Generationen aus verschiedensten Traditionen und Trends permanent neu amalgamiert.
Werkschau IV offeriert eine stichprobenartige Auswahl aus den wichtigsten, in diesem Kontext stehenden Werkblöcken und versucht, das immense, seit 1977 erarbeitete Ouevre in einem Überblick erahnbar zu machen. Der Bogen spannt sich von den frühen Portraitserien, spontan geschossenen Polaroid-Aufnahmen von Passanten, über die zwischen 1978 und 1984 entstandene, legendäre Weinhausserie zu den Straßenbildern, en passent getätigten Schnappschüssen aus Wien. Im Anschluß an die obsessive Erkundung des öffentlichen Raumes fokussiert Leo Kandls Interesse ab Mitte der achtziger Jahre auf das Intime, Private. Die im Atelier abgelichteten Selbstportraits mit Früchten dokumentieren ein spielerisches Experiment mit den Sinnen. Die Museumsstücke nehmen wie die Serie Aus dem Fundus den Sammlertrieb ins Visier, welcher in der Anfang der neunziger Jahre zusammengestellten Kollektion zum zentralen Thema und impliziten Anlaß für eine neuerliche Auseinandersetzung mit dem Menschenbild wird.
Seit 1996 steht in Leo Kandls Werk wieder das Individuum im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Wiener Modelle, per Inserat gefundene ZeitgenossInnen, die in ihren eigenen Kleidern nach ihren persönlichen Vorstellungen vor dem Auge der Kamera posieren, wirken im Gegensatz zum Frühwerk seltsam ambiva-lent. Einerseits karikieren sie mit ihrer Unmittelbarkeit nicht bloß die exaltierte Szene der Models und Modefotografen. An-dererseits repräsentieren sie Wirklichkeit, sind Abbildungen, die in der klassischen Tradition der Memesis stehen. In ihrer unverstellten, direkten Sprache aber zeigen sie zweierlei, nämlich das, was ist und das, was wir uns (heimlich) wünschen zu sein: Menschen, die ihr individuelles Verhältnis zur Welt, ihr Dasein im Kontext des Urbanen selbstverständlich und selbstbewußt gestalten.
Edith Almhofer