28,224 Sekunden

Zur künstlerischen Arbeit von Leo Kandl von Gert Walden
98 Farbnegativfilme hat Leo Kandl in New York exponiert - wie man früher einmal gesagt hat. Exponiert, dem Lichtkürzel der Verschlusszeit ausgesetzt, haben sich in den Straßen von Manhattan die Modelle Kandls, der seine Freiwilligen über Zeitungsinserate gesucht und dann mindestens 3.528-mal den Auslöser gedrückt hat.

Bei einer durchschnittlichen Verschlusszeit von einem 125stel ergibt das eine Gesamtbelichtungsdauer von 28,224 Sekunden. Nicht viel Zeit möchte man meinen, wenn es um die Exponierung seiner selbst geht. Aber die Fotografie ist ja im Vergleich immer noch ein verdammt schnelles Medium und auf der Straße wird nicht lange gefackelt.
Kandl intensiviert in New York, was ihn über Jahrzehnte schon beschäftigt. Die Interaktion, die Selbstdarstellung, die Beobachtung im städtischen Raum. Er löste sich allerdings sehr rasch vom allein voyeuristischen Standpunkt des Life-Fotografen. Den entscheidenden Moment des Exponierens inszeniert Kandl. Einverständnis und gegenseitigem Verständnis sind die (humanistische) Basis seiner Arbeit, der Fotograf und das Modell bringen sich zu gleichen Teilen in die Aktion ein. Kandl und seine Modelle spielen das immer neue Spiel mit der Identifikation in der Fotografie.
Dieses Ausloten der jeweiligen Befindlichkeiten, das Abbilden im Medium Fotografie mit der allgegenwärtigen Option des Spontanen machen die Abenteuer im Kopf und in den Straßen von Manhattan aus. Wer wen manipuliert, diese Frage lässt sich bei Kandls Operationsweise beantworten: Es sind Geschäfte auf Gegenseitigkeit.
Insgesamt also haben 3.528 Transaktionen stattgefunden und die Modelle bleiben wie stille Gesellschafter anonym. Als Ergebnis hat dann Kandl seine "New Yorker Modelle" und die "Modelle" haben "ihre Bilder". So einfach wäre das, wenn der Konsument, der Betrachter der Aufnahmen nicht ins Spiel kommen würde. Und dieser macht sich seine eigenen Bilder von den Modellen und ihren "festgehaltenen" Ausdrucksweisen, die eben diese Existenz eines Dritten reflektieren.
Da gibt es die Lady mit den gewellten Haaren, die fast so zögerlich lächelt wie einstens Mona Lisa. Da kauert ein Boy mit offensichtlich asiatischen Vorfahren schutzsuchend an einer Leiter. Dornenarmbänder und Air-Force-Jacke sind die Embleme seiner Suche nach Geborgenheit. Ein Poet steht in tragischer Pose am Hudson-River und das Girl im knallroten Mantel weiß noch nicht so recht, was es mit sich anfangen soll - zumindest beherrscht sie die Rituale der Großstadt noch nicht. Die Abenteuer im Kopf der Modelle und des Fotografen berühren auch das große Abenteuer Fotografie.
Kandls Serien sind nur mit der Fotografie machbar, gleichzeitig führt eine Beschreibung der lichtbildnerischen Vorgänge wieder zur Sprache. Verhaltensmuster eröffnen sich in der Deskription, Begehrlichkeiten und Wünsche werden lesbar, denn ganz  harmlos ist der Fotograf mit seinem ganzen altruistischen Impetus ja auch nicht, er will ebenso wie seine Modelle etwas - die Zeit überwinden, im langen Augenblick verweilen, auch wenn er insgesamt nur 28,224 Sekunden gedauert hat.

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